
Warum dieses Magazin nicht nachhaltig ist
Ein Klimatagebuch von IZ-Redakteur Ulrich Schüppler
Die Idee für diese Reportage klang einfach und einleuchtend: Schreibe darüber, wie unser Jubiläumsmagazin klimaneutral werden könnte. Doch es stellte sich heraus, dass der Weg voller Hürden ist. Sie reichen von einer unzureichenden Datenbasis über falsche Kompensationsversprechen bis hin zu viel zu kurz greifenden Nachhaltigkeitsstrategien. Wir stellen fest, unsere Ziele sind nicht ambitioniert genug und ihre Erreichung wird noch lange dauern.
Bild: iStock.com / MrJub

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Warum dieses Magazin nicht nachhaltig ist
Ein Klimatagebuch von IZ-Redakteur Ulrich Schüppler
Die Idee für diese Reportage klang einfach und einleuchtend: Schreibe darüber, wie unser Jubiläumsmagazin klimaneutral werden könnte. Doch es stellte sich heraus, dass der Weg voller Hürden ist. Sie reichen von einer unzureichenden Datenbasis über falsche Kompensationsversprechen bis hin zu viel zu kurz greifenden Nachhaltigkeitsstrategien. Wir stellen fest, unsere Ziele sind nicht ambitioniert genug und ihre Erreichung wird noch lange dauern.

Dezember 2022
Na, das wird Spaß machen!
Ich sitze auf meinem Sofa und lausche Hank Green. Nein, keinem Musiker. Green ist ein Wissenschafts-Nerd mit Hornbrille und war schon Influencer, als dieses Wort in Deutschland noch unbekannt war. Mit jugendlicher Frische, trotz seiner 42 Jahre, erklärt er auf Youtube-Kanälen wie SciShow wissenschaftliche Themen so, dass auch ein technischer Laie wie ich sie versteht. Zum Beispiel den Klimawandel und was wir dagegen tun können. Weil er dabei eine unbändig gute Laune versprüht, dient er mir nicht nur als Erklärbär, sondern hellt meine Stimmung auf. Die ist nämlich nicht gut.
Denn tags zuvor habe ich auf einem Panel von Matrics mitdiskutiert, der Nachwuchssparte des Bewerterverbands RICS. Es ging um Nachhaltigkeit in der Immobilienwirtschaft und darum, wie sie sich finanzieren lässt. Mauricio Vargas, Finanzexperte der Umweltorganisation Greenpeace, meinte dazu, dass der Staat einen CO2-Preis erheben müsste, der den Schaden der Emissionen realistisch abbildet. Dann hätten alle einen Anreiz, energieeffizienter zu werden, und die Politik wiederum hätte genug Geld, um den Klimaschutz zu fördern. Das klingt teuer und wohlstandsgefährdend. Und das deprimiert mich.
„Wir könnten CO2 recyceln“, schlägt Hank Green vor. Echt, das geht? Naja, theoretisch. Es gibt Konzepte, um CO2 aus der Luft zu filtern, lerne ich. Dann ließe es sich durch chemische Prozesse in eine feste Form bringen und im Boden lagern. „Oder wir nutzen das CO2, indem wir neuen Kraftstoff daraus gewinnen, für Flugzeuge zum Beispiel.“ Und wenn es recyceltes CO2 wäre, würde kein im Erdöl gespeichertes CO2 zusätzlich freigesetzt – das wäre also klimaneutral. Natürlich hat die Sache einen Haken. „Diese Konzepte befinden sich in der Erprobungsphase“, sagt Green. Und CO2-neutral lassen sie sich nur dann umsetzen, wenn die für die CO2-Abscheidung benötigte, nicht unerhebliche Energiemenge selbst aus erneuerbaren Quellen stammt. Ich seufze. Ach Hank, ich hatte mir mehr von dir erhofft.
Mein Faible für Klimathemen ist in der Redaktion bekannt. Kurz vor Weihnachten 2023 raunt mir mein Kollege Thorsten mit verschwörerischer Miene zu: „Wir haben ein Jubiläumsthema für dich gefunden. Ich glaube, das wird dir Spaß machen!“ Ich bin mir nicht so sicher.
Januar 2023
Alles Betrüger
Ich habe zugestimmt. Dem Vorschlag, meine ich. Ich soll herauskriegen, wie wir aus unseren Jubiläumsmagazin ein nachhaltiges Produkt machen könnten. Mit nachhaltig, darauf einige ich mich mit unserer Chefredakteurin Brigitte, ist CO2-neutral gemeint. Ich muss das nicht allein tun, ich darf eine Arbeitsgruppe gründen. Die Ergebnisse soll ich fürs Jubiläumsmagazin dokumentieren.
Die Titelgeschichte, die am 19. Januar in der Wochenzeitung Die Zeit erscheint, wird der Ausgangspunkt meiner Recherche. Die meisten Unternehmen weltweit, so lese ich, setzen statt auf CO2-Reduktion hauptsächlich auf Klimagaskompensation. Das bedeutet, sie bauen gar keine klimaschädlichen Prozesse ab, sondern bezahlen jemanden, der ihnen ein Zertifikat dafür ausstellt, dass zum Beispiel Bäume gepflanzt wurden. Doch viele dieser Bäume wären ohnehin gepflanzt worden, es wird also kein Gramm CO2 zusätzlich gebunden. Manchmal garantiert ein Zertifikat nur, dass Bäume stehen bleiben und weiterwachsen dürfen, statt abgeholzt zu werden. Geschieht das später trotzdem, ist die Auswirkung gleich null. Viele der Kompensationsanbieter rechnen den Effekt ihres Klimaschutzes schön – bis zu 90% ihrer Zertifikate sind laut zwei Studien, aus denen der Artikel zitiert, wertlos. Alles Betrüger. Es muss doch anders gehen.
„Manchmal garantiert ein Zertifikat nur, dass Bäume stehen bleiben und weiterwachsen dürfen, statt abgeholzt zu werden.“
Februar 2023
Hochmotiviert
Das Klimaprojekt findet rasch Mitstreiter im Verlag. Redaktionsassistentin Alex macht mit, ebenso Sebastian aus dem IZ-Research-Vertrieb und Claudia aus der Anzeigenabteilung. Vom Marketing stößt Lena dazu. Wir treffen uns zunächst alle zwei Wochen.
Inge, Leiterin von IZ Research, erzählt mir von der Neuen Narrative. Das ist eine am Gemeinwohl orientierte Publikation im Verantwortungseigentum der Mitarbeitenden, die sich dem Thema neue Arbeitswelt verschrieben hat und ohne Chefredakteur oder Verleger auskommt. Wie ich bei so viel sozialem Anspruch nicht anders erwartet hätte, stellt regeneratives Wirtschaften eines der Ziele der Neuen Narrative dar.
Doch selbst die kompensiert ihren CO2-Ausstoß – allerdings nicht mit Zertifikatsjongleuren, sondern als Mitglied der Genossenschaft The Generation Forest. Diese pflanzt Bäume selbst im Regenwald in Panama, wo sie den größten Nutzen bringen. Erstens bildet der Regenwald die grüne Lunge des Weltklimas, zweitens bindet ein Baum in Panama durch die günstigeren Wachstumsbedingungen gut anderthalb Mal so viel CO2 wie einer in Deutschland. Ich bin hochmotiviert herauszukriegen, wie Klimaneutralität funktioniert.
März 2023
Es geht um mehr als ESG
Unsere Arbeitsgruppe sammelt Ideen. Lena vom Marketing formuliert ihre größte Angst: „Bloß kein Greenwashing!“ Claudia meint zu Recht, dass wir das Magazin nicht isoliert betrachten dürfen. Schließlich ist es nur ein Teil der Aktivitäten, die zum Jubiläum stattfinden. Wir müssen zum Beispiel auch unser Sommerfest im Juli einbeziehen.
Claudia erzählt, dass die Band Coldplay bei jedem Konzert Trimm-dich- Fahrräder und Hüpfmatten bereitstellt, mit denen die Fans in der Pause Strom für die Akkus generieren können, mit denen die Bühnentechnik betrieben wird. Wäre das nicht etwas für uns, den eigenen Strom erzeugen? Unser Projektfokus vergrößert sich deutlich.

„Denn mit der Umweltfreundlichkeit einzelner Produkte ist es nicht getan.“
Bild: iStock.com / HS3RUS
Denn mit der Umweltfreundlichkeit einzelner Produkte, das lerne ich von Jeremy Rifkin, ist es nicht getan. Der Ökonom hält die Keynote auf der Immobilienmesse Mipim in Cannes und hat alles andere als Lob für die Branche übrig. „Die gebaute Infrastruktur muss sich komplett verändern“, sagt er. Schließlich müsse sie den zunehmenden Wetterextremen standhalten. In dem Interview, das ich mit ihm führe, wird Rifkin noch deutlicher: „Es geht um viel mehr als ESG.“ Er spricht vom menschengemachten Artensterben, von neuen Technologien und davon, dass sich alles ändern muss. Ob er damit den Menschen nicht Angst mache, will ich wissen. „Aber die Leute haben doch schon Angst, sogar Todesangst“, sagt Rifkin. Der Druck des Kapitals werde schon dafür sorgen, dass die Unternehmen sich in die richtige Richtung bewegen. Ein typischer Amerikaner, der im Angesicht eines prognostizierten Weltuntergangs superoptimistisch ist. Manchmal wünsche ich mir das von uns Deutschen.
April 2023
Daten, Daten, Daten
Sebastian und ich lassen uns von Aedifion-CEO Johannes Fütterer Optimierungsstrategien für Gebäude erklären. Das Kölner Proptech betreibt eine Softwarelösung für die technische Gebäudeausrüstung. Mit der auf künstlicher Intelligenz basierten Cloud-Plattform können Energie- verbrauch und CO2-Emissionen von Gebäuden um bis zu 40% gesenkt werden. Die gut 2.000 qm Bürofläche, die wir als IZ haben, stellen laut Fütterer eine Größenordnung dar, bei der sich positive Effekte für Klima und für Kosten erzielen lassen – durch die Analyse des Betriebs.
„Unsere smarte Plug-and-Play-Lösung erfasst diese Daten, identifiziert Fehlfunktionen und gibt klare Handlungsempfehlungen, um den Gebäudebetrieb effizienter und klimafreundlicher zu machen“, sagt Fütterer, der sichtlich für das Thema brennt. Aedifion braucht eine Menge Informationen von uns, wie Abrechnungen, Angaben über den Zustand der Heizung und der Klimageräte sowie über deren Einstellungen und die Wartungszyklen. Dazu die Lieferverträge mit Anbietern von Strom und Wärme. Auf Basis seiner Analyse kann Aedifion Empfehlungen für die richtigen Einstellungen der Geräte geben, ohne große Kosten. „Als zweiten Schritt erwägen wir die Integration von Sensoren zur Identifizierung von Ineffizienzen, wie unnötig betriebsbereite Drucker oder offene Fenster“, erklärt uns Fütterer. „Im letzten Schritt klären wir gemeinsam, inwieweit bauliche Maßnahmen am Haus, beispielsweise eine Photovoltaikanlage auf dem Dach, sinnvoll sind.“
„Damit Ihnen eine Kaffeemaschine eine Tasse Espresso brüht, müssen Sie sieben Minuten in die Pedale treten.“
Bild: iStock.com / RosLilly

Doch erst einmal scheitern wir daran, Kontakt zum Hausverwalter herzustellen, der längere Zeit wegen Krankheit ausfällt. Eine Heizkostenabrechnung bekomme ich von unserer Verwaltung. In Papierform. Aber da die IZ im Lauf der Jahre immer neue Einheiten im Haus dazu gemietet hat und diese auf der Abrechnung alle einzeln auftauchen, ist das für mich ein Buch mit sieben Siegeln. Ich scanne die Zahlen wenigstens mal ein und schicke sie an Aedifion.
Bernhard Lang muss grinsen, als ich ihm erzähle, dass wir per Heimtrainer Strom erzeugen wollen. „Natürlich geht das, aber da müssen Sie lange strampeln.“ Lang vermietet sogenannte Energy-Bikes zu Simulationszwecken, an Schulen oder auf Messen. „Damit Ihnen eine Kaffeemaschine eine Tasse Espresso brüht, müssen Sie sieben Minuten in die Pedale treten“, rechnet er vor. Das reicht, um parallel bis zu zwölf Handyakkus zu laden. Wir überlegen, eines der Räder für unser Sommerfest zu mieten. Aber die lange Anfahrt des Dienstleisters Lang würde mehr CO2 ausstoßen, als wir auf dem Rad mit Muskelkraft an Ökostrom erzeugen können. Wir lassen es.
Die Fahrradidee zeigt, dass es schwierig ist, sich den konkreten Nutzen von etwas vorzustellen. Tatsächlich könnten wir Energy-Bikes zum Laden von Akkus selbst basteln, Bauanleitungen dafür finde ich im Netz. Kosten: Rund 200 Euro Material plus ein eigenes Fahrrad. Eine anschlussfertige Heimtrainer-Version verkauft eine Firma in Thüringen für rund 1.000 Euro. Damit sich so ein Rad amortisiert, müsste ein IZ-Mitarbeiter die Arbeitszeit eines ganzen Jahres darauf verbringen. Beim derzeitigen deutschen Strommix könnte er damit rund 86 kg CO2 sparen. Das ist ungefähr so viel oder besser wenig, wie bei einer 500 km langen Autofahrt mit einem Mittelklassewagen anfällt.
Mai 2023
Nachhaltigkeit als Lebensaufgabe
Alex, Claudia und ich besuchen die Druckerei Lokay in Reinheim. Die fertigt alle unsere Sonderhefte und damit auch das Jubiläumsmagazin. Mit öffentlichen Verkehrsmitteln ist die Druckerei, die in einem Gewerbegebiet liegt, schwer zu erreichen. Wir fahren daher zu dritt in einem Auto. Bei 118 Kilometern hin und zurück und rund 120 Gramm CO2-Ausstoß pro Kilometer verursacht der Ausflug für jeden von uns rund 4,7 kg CO2.
Als Ralf Lokay die Firma Anfang der 90er Jahre von seinem Großvater übernahm, war sie eine ganz gewöhnliche Druckerei. Doch nach der Geburt seiner ersten Tochter machte Lokay sich Sorgen wegen Umweltgiften im Kinderzimmer und stellte den Betrieb um. „Es war ein Abenteuer, einen Hersteller zu finden, der lösungsmittelfreie Druckfarbe herstellt.“ Zuerst kam die Farbe, dann das Umweltpapier, dann der Umbau der Druckerei, inklusive Fenster, Wände, Dämmung und Lüftung. Für das nächste Projekt, eine Photovoltaikanlage auf dem Dach, fehlt noch die Genehmigung. „Aber die ändert nichts an unserer Ökobilanz, wir beziehen schon heute 100% grünen Strom“, sagt Lokay. Er macht das aus Überzeugung und hat massenhaft Umweltpreise gewonnen – und es rechnet sich auch. Denn trotz höherer Preise rennen ihm die Kunden die Bude ein, seit er nachhaltig arbeitet. Der Grund ist laut Lokay einfach: In Deutschland gebe es zwar mehrere tausend Druckereien. „Aber so konsequent wie ich machen das höchstens zehn bis 15.“ Nicht Prozent, wohlgemerkt, sondern absolut.
Im Video sehen Sie die ersten gedruckten Seiten des Jubiläumsmagazins. Sie wurden in der Druckerei Lokay gedruckt. Ein Unternehmen, das die Nachhaltigkeit groß schreibt. Video: Druckerei Lokay
Bem der CO2-Vermeidung kann Lokay nichts mehr verbessern, deshalb wendet er sich inzwischen der Kreislaufwirtschaft und der Gemeinwohlökonomie zu. Sich im Hauruckverfahren einen Ökoanstrich zu geben, hält er für aussichtslos. Für seinen Betrieb habe es 20 Jahre gedauert, um dorthin zu kommen, wo er jetzt stehe.
Das CO2, das die Druckerei direkt und indirekt erzeugt – Fachleute sprechen von Scope 1 und Scope 2 –, hat Lokay von 2006 bis 2021 um 90% reduziert. Doch wenn er Scope 3 hinzurechnet, also alle CO2-Ausstöße seiner Lieferanten und Dienstleister, dann steigt die Gesamtbilanz um das Neunfache an. „Nur 4% aller deutschen Unternehmen berichten Scope 3 umfassend“, weiß der Druckereichef. Wegen oft unvollständiger Daten muss hier geschätzt werden. Zur Sicherheit kompensiert Lokay sein nicht weiter reduzierbares CO2 nicht einfach, sondern doppelt.
Die jahrelangen Anstrengungen von Herrn Lokay beeindrucken uns. Zwar druckt die IZ ihre Magazine seit ein paar Jahren bei Lokay. Doch uns wird bewusst, dass es nicht ausreicht, nur die Auswirkungen unseres 30. Geburtstags auf unseren CO2-Fußabdruck zu berücksichtigen. Jetzt geht es bei unseren Nachforschungen also um den ganzen Verlag.
„Alles, was produziert wird, wirkt aufs Klima ein.
Wir gehen mittlerweile weg vom Begriff klimaneutral und nutzen die Bezeichnung klimaaktiv.“
Wie eine Klimaanalyse für ein Unternehmen aussieht, erfahre ich von Daniel Waschiloswki, Berater von Planted. Er stellt für die IZ-Veranstaltungstochter Heuer Dialog die Klimabilanz auf und kümmert sich um die Kompensation von deren CO2-Saldo. „Bei Scope 3 kommen Sie um Schätzungen nicht herum“, bestätigt Waschilowski. Das sei völlig legitim und international vom Standard des Greenhouse Gas Protocols gedeckt. Und er betont, dass, bevor über CO2-Reduktion oder gar Kompensation geredet werden kann, erst einmal die CO2-Verursacher identifiziert werden müssen. „Die größten CO2-Treiber in einem Dienstleistungsunternehmen sind Energie, Fuhrpark und Strom.“
Mit Aussagen, dass dieses oder jenes Produkt klimaneutral sei, kann Waschilowski wenig anfangen. „Alles, was produziert wird, wirkt aufs Klima ein. Wir gehen mittlerweile weg vom Begriff klimaneutral und nutzen die Bezeichnung klimaaktiv.“ Zudem prüfe die EU-Kommission derzeit, inwieweit mit Begriffen wie klimaneutral noch geworben werden dürfe.

Bild: iStock.com / Bangon Pitipong
Juni 2023
Es ist ein Marathon, kein Sprint
Alexander Masser, Inhaber von Masser Consult und Bruder von Sebastian, ist spezialisiert auf Corporate Social Responsibility und berät unter anderem Unternehmen aus der Automobilindustrie. Er erklärt mir, dass Klimaneutralität allein nicht besonders nachhaltig ist. Ein grünes Gewissen bringe wenig, wenn ein Teil der Wertschöpfung woanders auf der Welt durch Kinderarbeit stattfindet. Um eine echte Nachhaltigkeitsstrategie zu entwickeln, empfiehlt Masser Werteworkshops. „Dabei spielen die Bedürfnisse aller Stakeholder eine Rolle, also von Mitarbeitern, Kunden und Lieferanten“, sagt er. Die Ergebnisse können dann in konkrete Prozesse münden, die sich wiederum durch ISO-Normen zertifizieren lassen. Damit das Ganze auf festem Boden steht, müsse ein Großteil des Teams einbezogen werden und die Geschäftsleitung die nötigen Freiräume schaffen. Das alles braucht Zeit. „Veränderung ist ein Marathon“, sagt Masser.
Ich habe mittlerweile die Leasingverträge für unsere IZ-Dienstwagen aus der Verwaltung erhalten. Von den 14 Pkws fahren drei elektrisch, zwei davon als Hybrid. Die durchschnittliche Laufleistung beträgt 20.000 Kilometer, was rund 2,4 Tonnen CO2 erzeugt. Unterstellt, dass zwei Drittel der Fahrten dienstlich motiviert sind, wären das rund 1,6 Tonnen CO2-Ausstoß im Jahr. Zum Vergleich: Die Flugreisen, die für das Magazin angefallen sind – unter anderem nach Ägypten, Brasilien und Turkmenistan –, haben nach Angaben der Fluggesellschaften rund 3,1 Tonnen CO2 erzeugt. Um das innerhalb eines Jahres zu kompensieren, könnten wir von Grow my Tree für rund 430 Euro im Regenwald 140 Bäume pflanzen lassen. Doch das scheint eine Milchmädchenrechnung zu sein: Es gibt Studien, die zeigen, dass nachwachsender Regenwald bis zu zehn Jahre nach dem Wiederaufforsten durch verrottendes Restmaterial noch CO2 freisetzt, bevor er wieder welches binden kann. Es gilt als zwingend, zunächst so viel CO2 wie möglich zu sparen, bevor der unvermeidliche Rest kompensiert wird.
Juli 2023
Der Klimawandel ist real
Die Nachrichten über Wetterphänomene weltweit überschlagen sich: Waldbrände auf Rhodos und in Portugal, Überschwemmungen in Slowenien und China, Hitzetote in den USA und im Iran. Gab es diese Dichte an wetterbezogenen Katastrophenmeldungen schon immer oder ist meine Wahrnehmung durch unser Projekt geschärft? Der Juli in Deutschland endet mit 100 Liter Regen pro Quadratmeter, normal wären 78.
August 2023
Ende einer Rundreise
Die Zeit, die ich zur Verfügung habe, nähert sich dem Ende und ich lande wieder beim Problem Greenwashing. Rechtsanwalt Christoph Crützen von Mayer Brown in Düsseldorf erklärt mir eine EU-Richtlinie, die den Umfang von sogenannten Green Claims regeln soll: „Heute herrscht bei Angaben zur Klimaneutralität eine Wildwest-Mentalität. Da werden CO2-Budgets innerhalb einer Produktionsstätte buchhalterisch zwischen einzelnen Produkten hin- und hergeschoben“, sagt er. So können Erzeugnisse grün gerechnet werden, die es gar nicht sind.
Nach den EU-Plänen müssen Green Claims, wie eine behauptete Klimaneutralität, künftig wissenschaftlich nachprüfbar sein, zudem liegt die Beweislast dafür bei demjenigen, der den Claim in die Welt setzt. Bisher kann wettbewerbsrechtlich nur belangt werden, wer völlig falsche Dinge behauptet, wer also Recycling oder CO2-Kompensation vorgaukelt, ohne es überhaupt zu tun. „Künftig wird auch eine Rolle spielen, wie genau recycelt oder kompensiert wird. Übertriebene Aussagen können Wettbewerber oder Verbände dann zu kostenpflichtigen Abmahnungen veranlassen – oder aufsichtsrechtliche Folgen haben“, sagt Crützen.
Die Umsetzung dieser EU-Richtlinie zur Bekämpfung von Greenwashing- Kommunikation dürfte bis 2025 dauern, vermutet der Anwalt. Doch Unternehmen sollten sich schon Gedanken machen, denn die möglichen Verpflichtungen gelten rückwirkend, während sich die Bewertungskriterien für bereits getroffene Aussagen verändern können – ein klassisches Dilemma. „Zu lösen ist das nur über eine Due Diligence durch Dritte, wie wir das im Bereich der Wirtschaftsprüfung kennen“, sagt Crützen.
Influencer Hank Green hat Lymphknotenkrebs und trägt wegen seiner Chemotherapie jetzt eine Basecap. Seiner guten Laune scheint das keinen Abbruch zu tun. Die tollste Klimanachricht der Woche, berichtet er, ist der Umstand, dass die Wassertemperatur der Weltmeere seit 2020 stärker gestiegen ist als von den Klimamodellen vorhergesehen. Wie bitte? Ja, denn dieser an sich negative Effekt liege daran, dass Frachtschiffe seit drei Jahren auf besonders schwefelhaltigen Treibstoff verzichtet hätten. Genau der aber habe durch seine Schwebstoffe zuvor zur lokalen Wolkenbildung beigetragen und, weil die Wolken Licht reflektieren, einen Kühlungseffekt bewirkt. „Positiv ist das, weil wir nun einen Hinweis haben, dass menschengemachte Effekte viel schneller aufs Klima wirken als angenommen. Das könnten wir auch in die andere Richtung nutzen.“ Prima, die Welt geht nicht unter!
September 2023
Es bewegt sich was
Sebastian hat endlich eine vollständige Nebenkostenabrechnung von unserer Hausverwaltung aufgetrieben. Und Herr Fütterer von Aedifion will uns bei unserer Reise zu mehr Klimafreundlichkeit weiter unterstützen. Er empfiehlt jedoch, die Einstellungsoptimierung unserer Heizungsanlage erst nach Ende der kommenden Heizperiode in Angriff zu nehmen.
Also können wir nicht vor Frühjahr 2024 die CO2-Einsparmöglichkeiten in unseren Räumen überprüfen. Das ärgert uns, denn wir haben immer noch nichts Konkretes erreicht. Gut ist aber: Wir und alle Abteilungen, die involviert waren, sind deutlich stärker für das Thema sensibilisiert.
Nun können wir die Zeit nutzen, um den Rest des Verlags und auch die Geschäftsführung in unsere Klimareise einzubinden.

Bild: iStock.com / Ratsanai
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