
„Wir sind nicht die Angreifer“
Familie Rajabie, Silwan (Ost-Jerusalem)


„Wir sind nicht die Angreifer“
Familie Rajabie, Silwan (Ost-Jerusalem)
Zohar und Rula Rajabie leben im Stadtteil Silwan in Ost-Jerusalem. Sie bewohnen ein Haus in Hanglage mit Blick über ein Tal, das vor allem bei der jüdischen Bevölkerung der Stadt Begehr- lichkeiten weckt. Dort liegt die archäologische Fundstätte der historischen Davidsstadt, die nach der Bibel den Ursprung Jerusalems bildet. In den Hängen von Silwan wurden jüdische Felsengräber aus dem 9. Jahrhundert v. Chr. gefunden. Das Gebiet ist erst nach dem Sechstagekrieg von 1967 mit West-Jerusalem vereint worden und wird mehrheitlich von Palästinensern bewohnt. Seit einigen Jahren drängen jedoch jüdische Familien in das Viertel. Den Palästinensern werden Ausweichquartiere in Vororten angeboten.
„Das Haus haben meine Eltern 1966 mit ihren eigenen Händen erbaut, meine Mutter hat schwere Steine für das Fundament geschleppt“, erzählt Zohar. Gekauft haben sie das Grundstück von einer palästinensischen Familie, die es ihrerseits von jemenitischen Juden erworben hatte, die dort vor mehr als 100 Jahren Landwirtschaft betrieben.

Die Tatsache, dass hier einst Juden Grundbesitz hatten, wird Familie Rajabie nun zum Verhängnis. Religiöse Siedlerorganisationen versuchen, mittels Gerichtsbeschluss Häuser zu erwerben, die die Palästinenser nicht verlassen wollen. Araber hätten die jüdische Bevölkerung 1946 von ihrem Land vertrieben, heißt es zur Begründung. Dass Familie Rajabie das Land ganz legal gekauft hat, spielt keine Rolle. Ein Räumungsbescheid liegt bereits vor. „Plötzlich kommt jemand und will alle Erinnerungen an den Ort zerstören, mit dem wir von Geburt an verbunden sind“, sagt der 52-jährige Zohar verbittert.
Zohars Eltern haben ihr anfänglich sehr kleines Haus immer weiter ausgebaut, um ausreichend Platz für ihre zehn Kinder zu bekommen. Die sieben Söhne haben es längst gemeinschaftlich übernommen. Jeder hat eine etwa 70 Quadratmeter große Wohnung für seine Familie erhalten. Auf rund 600 Quadratmetern leben fast 50 Personen in nach westlichen Maßstäben bescheidenen Verhältnissen. Zohars und Rulas Kinder sind mittlerweile erwachsen und haben eigene Familien gegründet. Tochter Rawan wohnt in der Nähe. Mit ihrem Sohn Adhan kommt sie regelmäßig zu Besuch.
Der gültige Räumungsbescheid führt dazu, dass die Rajabies keine Reparaturen an ihrem Haus mehr durchführen können. Als im Mai ein Abwasserrohr einer höher gelegenen Straße barst, weil städtische Mittel für die Instandsetzung seit Jahren hauptsächlich in jüdische Stadtviertel fließen, gelangten Fäkalien bis in die Schlafzimmer der Familie von Zohars Bruder im Erdgeschoss des Hauses. Die Abwasserleitung auf der Straße wurde mittlerweile repariert, die seither unbewohnbaren Zimmer dürfen jedoch nicht saniert werden. Jegliche Baumaßnahme gilt als rechtswidrig.

Kein Luxus: Familie Rajabie wohnt im Haus der Eltern im Ost-Jerusalemer Stadtteil Silwan.
Doch nicht nur die Wasserversorgung ist in marodem Zustand. Bei der Zuwegung sieht es nicht besser aus. Zum Haus der Rajabies führt zwar eine enge Straße, vom Tal aus ist es jedoch schneller über Treppen zu erreichen, die sich überall in der Stadt die zahlreichen Hügel hinaufwinden. „Die Treppe, die zu unserem Haus führt, ist erst kürzlich instandgesetzt worden, weil nebenan eine jüdische Familie eingezogen ist“, erzählt Zohar. „Die Stufen waren weggebrochen, im Winter war das sehr gefährlich.“ Hier erreichen die Temperaturen in den kalten Monaten Werte um den Gefrierpunkt, gelegentlich schneit es sogar.
Die jüdische Familie hat ein ehemals palästinensisches Haus bezogen. Es ist mit Stacheldraht gesichert und zur Straße hin verschanzt. Wenn seine neuen Bewohner Besorgungen erledigen und die Kinder zur Schule gehen, werden sie von einer bewaffneten Eskorte der israelischen Armee oder privaten Sicherheitskräften begleitet. Da es immer wieder zu Übergriffen kommt, hat Zohar an jeder Hausecke Überwachungskameras installiert. Das Geschehen beobachtet er auf einem großen Bildschirm im Wohnzimmer. „Wir brauchen die Aufnahmen“, erklärt er. „Nur so können wir beweisen, dass nicht wir die Angreifer sind, sondern die neuen Nachbarn und ihre Unterstützer.“ Wie lange sie so ausharren können, wissen die Rajabies nicht. Eine Alternative haben sie nicht.

„Ich gehe niemals weg von hier“
Familie Jarar Saif, Burqa


„Ich gehe niemals weg von hier“
Familie Jarar Saif, Burqa
„Wir leben unter großem Druck, psychologisch, ökonomisch, politisch und sozial. Wir fühlen uns wie in einem Gefängnis. Unser Haus hat Gitter vor den Fenstern und einen hohen Zaun, weil die Siedler uns regelmäßig angreifen. Sie haben sogar schon Feuer gelegt und Molotow-Cocktails in unsere Scheune geworfen“, erzählt Nizar Saif.
Der 68-Jährige und seine 66-jährige Frau Aida Jarar wohnen am Rand des Dorfes Burqa im nördlichen Westjordanland. Gemeinsam mit Nizars Bruder und dessen Familie leben sie auf einem Dreiseithof und betreiben eine kleine Landwirtschaft. In den 1970er Jahren hat Nizar in Köln Linguistik studiert, bevor es ihn in die Heimat zurückzog. Seine Frau stammt aus dem nur wenige Kilometer entfernten Nablus.
Burqa liegt in einem umkämpften Gebiet, in dem religiöse Israelis mit Nachdruck versuchen, sich anzusiedeln. Nach Jenin sind es keine 30 Kilometer auf dem Highway 60. Die Region gehört nach den Osloer Verträgen zur Zone B, steht also unter der zivilen Verwaltung der Palästinensischen Autonomiebehörde. Für die Sicherheit ist hier die israelische Armee zuständig. Israelis haben außerhalb des Highways offiziell keinen Zutritt, an den Straßen warnen riesige rote Schilder vor der Weiterfahrt, die gesetzlich verboten ist und lebensgefährlich sein kann.
Am Ortsrand von Burqa zeigt sich der Konflikt besonders deutlich. Das Haus der Saifs grenzt an einen Hügel, auf dem Israelis 1980 begannen, die umstrittene Siedlung Homesh zu errichten. Die etwa 70 Hektar landwirtschaftliche Fläche, die sie dafür besetzt haben, sind bis heute nachweislich im Privateigentum der Bewohner von Burqa. Mit der Einrichtung eines Stützpunkts durch die israelische Armee wurde den Eigentümern der Zugang verweigert. 2005 musste Israel das Gebiet ebenso wie Gaza in der Folge des Abkoppelungsplans von Ariel Scharon verlassen. Einige orthodoxe Juden bestehen jedoch bis heute auf der Rückkehr nach Homesh. Im Mai haben sie dazu mit Unterstützung der rechtsreligiösen Koalition von Premier Netanyahu in Sichtweite von Burqa eine Tora-Schule errichtet. Ziel ist es, durch die erneute Besiedelung die Bewohner der arabischen Dörfer daran zu hin- dern, ihre Felder zu bewirtschaften.
Für die Saifs hat die Landnahme durch die Siedler schwere Folgen. Mit dem friedlichen Leben am Rande des Dorfes ist es seit dem Tag vorbei, als ihre Scheune in Brand gesetzt wurde. „Sämtliches Futter für unsere Schafe und Ziegen ist verbrannt“, erzählt Nizar. „Wir mussten die Fenster der Wohnungen mit engmaschigen Gittern schützen, um weitere Angriffe zu verhindern.“ Der Besitz der Saifs ist seitdem nach außen verschanzt. Nur eine kleine Tür ermöglicht den Zugang zum großen Innenhof, der mit seinen zahllosen bunten Blumen wie ein Idyll in feindlicher Landschaft wirkt. Auch hier sind Fenster und Türen vergittert. Auf jeweils 125 Quadratmetern leben die beiden Familien heute nicht mehr so gedrängt wie zu Zeiten, als die Kinder klein waren.

Aida Jarar und Nizar Saif mussten ihr Haus gegen Angriffe durch aggressive Siedler aus Homesh schützen.

„Hier haben sie immer gegessen“, erinnert sich Aida in ihrer großen Küche. Erst nach dem Auszug der acht Kinder, die mittlerweile alle im Ausland leben, haben die beiden für ihr größeres Wohnzimmer mit roten Samtsofas zwei Zimmer zusammenlegen können. Eine ehemalige Veranda wurde ebenfalls integriert. Weiterer Luxus ist bei den Saifs nicht zu finden. „Ich bin hier geboren. Ich lebe hier und gehe niemals weg von hier“, sagt Nizar trotz der widrigen Umstände. Das Haus wurde von seinem Vater erbaut. Von den zehn Geschwistern sind nur er und sein Bruder geblieben.
In den heißen Sommermonaten ist das Wasser manchmal knapp. Die Wasserzufuhr wird von der Autonomiebehörde kontrolliert. Strom hingegen kommt aus Israel. Er werde gelegentlich abgeschaltet, erklärt Nizar. Wie schwierig es sich mit den Zuständigkeiten gestaltet, zeigt das Beispiel einer kleinen Reparatur an einem Mast. Als sich ein arabischer Elektriker daran machte, wurde ihm der Eingriff durch die Armee untersagt. Ein Elektriker aus Israel musste es richten.

„Es sind genug Menschen vertrieben worden“
Familie Nawaj’ah, Susya


„Es sind genug Menschen vertrieben worden“
Familie Nawaj’ah, Susya
„Wenn man müde ist, möchte man nach Hause gehen und sich ausruhen. Hier geht das nicht“, sagt Nasser Nawaj’ah. Bei jedem Geräusch hat er das Gefühl, ein Bulldozer kommt und reißt ein Haus ab. „Wenn ich die Bulldozer auf der Straße weiterfahren sehe, denke ich, Gott sei Dank, es ist nicht mein Haus.“
Der 40-Jährige lebt mit seiner 31-jährigen Frau Hiam und den vier gemeinsamen Kindern zwischen zwei und 15 Jahren in Susya südlich von Hebron. Seine Familie musste 1986 ihr altes Dorf 300 Meter weiter nördlich verlassen. Dort findet sich heute eine archäologische Grabungsstätte. Nassers Vater wurde 1946 in einem Dorf außerhalb der West Bank geboren, das zwei Jahre später zum neu gegründeten Staat Israel gehörte. Seine Familie wurde von dort vertrieben und zog ins alte Susya. Heute lebt er bei Nassers Familie.
Palästinenser haben sich in Susya seit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts angesiedelt. Die Nawaj’ahs sind nach der Staatsgründung Israels 1948 gekommen. Damals konnten sie Land er- werben und auf ihren Namen registrieren lassen, jedoch ohne exakten geografischen Nachweis.
Da in Susya bis ins 6. Jahrhundert eine der wichtigsten Synagogen stand, hat der Staat Israel in den 80er Jahren mit Ausgrabungen begonnen und den ehemaligen Bewohnern angeboten, in eine weiter östlich gelegene Gemeinde zu ziehen. Familie Nawaj’ah beruft sich jedoch auf ihrem Grundbesitz. Mit einigen anderen Familien haben sie sich auf ihren eigenen landwirtschaftlichen Flächen südlich der Grabungsstätte in einem Camp aus Mobile Homes angesiedelt, das nur durch Hilfe aus der EU überlebensfähig ist.
Das ursprünglich als Behelfshaus errichtete Mobile Home ist längst zur Dauerlösung geworden. Dort hat die Familie eine große Küche mit Schlafecke, ein ebenso großes Wohnzimmer mit vier Sofas und ein weiteres Zimmer eingerichtet, in dem Matratzen, Kleidung und Decken lagern. Ein richtiges Bad gibt es nicht. Feste Häuser dürfen an dieser Stelle nicht errichtet werden. Wie lange die Provisorien noch geduldet werden, wissen ihre Bewohner nicht. Mehrere Versuche, einen Masterplan für ein neues Dorf durchzusetzen, sind an der israelischen Verwaltung gescheitert. Da Nasser öffentlich Widerstand leistet und deshalb bereits mehrmals vor Gericht stand, darf er an seiner Wohnung nichts verändern. Sonst würde er den ersatzlosen Abriss riskieren. „Natürlich wünsche ich mir ein Haus, in dem jedes Kind sein eigenes Zimmer hat“, sagt er. An diesem Ort wird es jedoch bei einem Wunsch bleiben.
Die Familie lebt von ihrer kärglichen Landwirtschaft mit Schafen, Ziegen und Hühnern. Lokale Produkte wie Käse und Textilwaren verkaufen sie in einem kleinen Laden, der wie die ursprünglichen Wohnungen in der Region als Höhle in den Berg getrieben wurde. Strom erhalten sie von einer großen PV-Anlage, die als Spende aus Deutschland kam. Auch ein Spielplatz für die Kinder wurde mit EU-Mitteln finanziert.

Den Nawaj’ahs ist nur ein Behelfshaus in einem Camp südlich von Hebron geblieben.

Die Wasserbeschaffung hingegen unterliegt der Gunst der israelischen Armee. Jüdische Siedler haben eine illegale Siedlung auf den von den arabischen Bewohnern errichteten Regenwasser- Zisternen gegründet und nutzen die Präsenz der Armee, um den Zugang zu kontrollieren. Da das Wasser in großen Tanks transportiert wird, müssen palästinensische Familien die An- und Abfuhr jedes Mal bezahlen. Der Literpreis erhöht sich damit um ein Vielfaches im Vergleich zu dem, was die Siedler zahlen, die an das staatliche Netz angeschlossen sind. Die Palästinenser im Camp leben in ständiger Angst vor der Willkür der Siedler. Die Kinder können nicht vor Ort unterrichtet werden, sondern müssen in die Nachbarstadt Yatta fahren. Dort liegt auch die nächste medizinische Versorgung. Von hier weggehen wollen sie trotzdem nicht, denn für sie alle gibt es keinen anderen Ort als den, an dem sie aufgewachsen sind. „Es sind genug Menschen vertrieben worden. Es darf keine Naqba mehr geben“, sagt Nasser.
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