OHNE Sicherheit KEIN Zuhause
Text | Thorsten Karl
Sie sind die Minderheit in der Minderheit. Verfolgt im eigenen Land und verstoßen von der eigenen Familie. Sie begeben sich auf die Flucht nach Deutschland. Hier erhoffen sie sich Sicherheit und eine gute Zukunft. Die Rede ist von Menschen, die wegen ihrer sexuellen Orientierung flüchten müssen. Sechs von ihnen beschreiben uns den langen Weg, der sie von der verlorenen Heimat über eine sichere Unterkunft vielleicht zu einem neuen Zuhause führt.
OHNE Sicherheit KEIN Zuhause
Text | Thorsten Karl
Foto: Armin Khelghat
Sie sind die Minderheit in der Minderheit. Verfolgt im eigenen Land und verstoßen von der eigenen Familie. Sie begeben sich auf die Flucht nach Deutschland. Hier erhoffen sie sich Sicherheit und eine gute Zukunft.
Die Rede ist von Menschen, die wegen ihrer sexuellen Orientierung flüchten müssen. Sechs von ihnen beschreiben uns den langen Weg, der sie von der verlorenen Heimat über eine sichere Unterkunft vielleicht zu einem neuen Zuhause führt.
Queeren, schwulen, lesbischen, bisexuellen, trans- und intergeschlechtlichen Menschen steht in Deutschland der Schutz durch Asyl zu, wenn sie in ihrem Heimatland aufgrund ihrer sexuellen Orientierung verfolgt werden. Wie viele mit dieser Begründung Asyl beantragen, ist nicht bekannt, da ihre Zahl nicht erhoben wird. „Das liegt daran, dass das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge sie unter der Kategorie ‚Geschlechtsspezifische Verfolgung‘ subsumiert“, erklärt der Lesben- und Schwulenverband e.V. in Köln. „Darunter fallen auch weitere Formen von Verfolgung, beispielsweise Zwangsheirat, Femizid oder weibliche Genitalverstümmelung.“ Knapp 70 Staaten weltweit stellen gleichgeschlechtliche Beziehungen unter Strafe. Die Folgen reichen je nach Land von Geldstrafen über körperliche Misshandlungen bis hin zur Todesstrafe. Die Betroffenen werden von der Gesellschaft geächtet. Viele erleben Gewalt oder Erpressung, sie verlieren ihre Arbeit oder ihre Wohnung. Oft werden sie nicht einmal von der eigenen Familie unterstützt. Stattdessen werden sie dort Opfer von offener Verachtung oder körperlicher wie psychischer Gewalt. Viele Geflüchtete erzählen die gleiche Geschichte: Familienmitglieder haben sie verprügelt und eingesperrt, ihre Handys kontrolliert oder sie zur Heirat gezwungen. Die meisten büßen die heimatliche Geborgenheit und Sicherheit mit dem Ende ihrer Kindheit ein, sobald sie sich zu ihrer Sexualität bekennen. Von einem Tag auf den anderen verlieren sie nicht nur die Liebe ihrer Familie, sondern auch die Freunde und das komplette soziale Umfeld. Dieser Bruch ist einer der häufigsten Auslöser für eine Flucht. Nach ihrem Coming-out verhielten sich die Eltern von Nour aus Syrien regelrecht wie „Monster“. Meri aus Armenien wurde von ihren Kommilitonen an der Universität bespuckt. Ray und Xhino aus Albanien erzählen, wie sie von ihren früheren Freunden verprügelt wurden. Am Ende sehen sie alle nur einen Ausweg: Das Leben in ihrer Heimat zu tauschen gegen ein Leben in einem fremden, aber sicheren Land – Deutschland. Finanzielle Motive spielen in den von uns nachfolgend geschilderten Fluchtgeschichten keine Rolle. Im Gegenteil. Die meisten haben sich hierzulande wirtschaftlich schlechter gestellt, als sie es in ihrem Heimatland waren. So berichtet Tarlan, dass mit seinem in Aserbaidschan erworbenen Master of Marketing und Management in Deutschland wegen seiner nicht ausreichenden Deutschkenntnisse nichts mehr anzufangen war. Meri erzählt, dass sie ihr in Eriwan mit dem Bachelor abgeschlossenes Studium der Zahnmedizin hier nicht fortsetzen konnte, weil ihr Abschluss nicht anerkannt wurde. Sie müssen eine neue Ausbildung beginnen oder sich als ungelernte Hilfskräfte verdingen.
Stockbetten im Übergangswohnheim Dresden-Sporblitz. Foto: Imago / Sylvio Dittrich
Foto: Armin Khelghat
Queeren, schwulen, lesbischen, bisexuellen, trans- und intergeschlechtlichen Menschen steht in Deutschland der Schutz durch Asyl zu, wenn sie in ihrem Heimatland aufgrund ihrer sexuellen Orientierung verfolgt werden. Wie viele mit dieser Begründung Asyl beantragen, ist nicht bekannt, da ihre Zahl nicht erhoben wird. „Das liegt daran, dass das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge sie unter der Kategorie ‚Geschlechtsspezifische Verfolgung‘ subsumiert“, erklärt der Lesben- und Schwulenverband e.V. in Köln. „Darunter fallen auch weitere Formen von Verfolgung, beispielsweise Zwangsheirat, Femizid oder weibliche Genitalverstümmelung.“ Knapp 70 Staaten weltweit stellen gleichgeschlechtliche Beziehungen unter Strafe. Die Folgen reichen je nach Land von Geldstrafen über körperliche Misshandlungen bis hin zur Todesstrafe. Die Betroffenen werden von der Gesellschaft geächtet. Viele erleben Gewalt oder Erpressung, sie verlieren ihre Arbeit oder ihre Wohnung. Oft werden sie nicht einmal von der eigenen Familie unterstützt. Stattdessen werden sie dort Opfer von offener Verachtung oder körperlicher wie psychischer Gewalt. Viele Geflüchtete erzählen die gleiche Geschichte: Familienmitglieder haben sie verprügelt und eingesperrt, ihre Handys kontrolliert oder sie zur Heirat gezwungen. Die meisten büßen die heimatliche Geborgenheit und Sicherheit mit dem Ende ihrer Kindheit ein, sobald sie sich zu ihrer Sexualität bekennen. Von einem Tag auf den anderen verlieren sie nicht nur die Liebe ihrer Familie, sondern auch die Freunde und das komplette soziale Umfeld. Dieser Bruch ist einer der häufigsten Auslöser für eine Flucht. Nach ihrem Coming-out verhielten sich die Eltern von Nour aus Syrien regelrecht wie „Monster“. Meri aus Armenien wurde von ihren Kommilitonen an der Universität bespuckt. Ray und Xhino aus Albanien erzählen, wie sie von ihren früheren Freunden verprügelt wurden. Am Ende sehen sie alle nur einen Ausweg: Das Leben in ihrer Heimat zu tauschen gegen ein Leben in einem fremden, aber sicheren Land – Deutschland. Finanzielle Motive spielen in den von uns nachfolgend geschilderten Fluchtgeschichten keine Rolle. Im Gegenteil. Die meisten haben sich hierzulande wirtschaftlich schlechter gestellt, als sie es in ihrem Heimatland waren. So berichtet Tarlan, dass mit seinem in Aserbaidschan erworbenen Master of Marketing und Management in Deutschland wegen seiner nicht ausreichenden Deutschkenntnisse nichts mehr anzufangen war. Meri erzählt, dass sie ihr in Eriwan mit dem Bachelor abgeschlossenes Studium der Zahnmedizin hier nicht fortsetzen konnte, weil ihr Abschluss nicht anerkannt wurde. Sie müssen eine neue Ausbildung beginnen oder sich als ungelernte Hilfskräfte verdingen.
Stockbetten im Übergangswohnheim Dresden-Sporblitz. Foto: Imago / Sylvio Dittrich
Bevor es so weit ist, gilt es, die Hürden der Bürokratie zu überwinden. Jeder Geflüchtete benötigt zunächst einen Status, der es ihm erlaubt, sich überhaupt in Deutschland aufzuhalten. Das kann eine Duldung, eine Anerkennung für eine befristete Zeit oder der sogenannte subsidiäre Schutz sein. Ohne einen solchen Status gibt es weder Deutschkurse, noch können sie einer geregelten Arbeit nachgehen. Sie dürfen selbst den Landkreis, in dem sie registriert sind, nicht verlassen. An eine eigene Wohnung ist zu diesem Zeitpunkt nicht zu denken. Gerade der subsidiäre Schutz spielt für viele der Hilfesuchenden eine große Rolle. Häufig stammen sie aus Ländern, die als sichere Herkunftsstaaten definiert werden. Diese Liste wurde 1993 im deutschen Asylrecht eingeführt und enthält Staaten, von denen der Gesetzgeber ausgeht, dass dort keine politische Verfolgung stattfindet. Wer aus einem solchen Land kommt, für den ist die Anerkennung schwierig. Als sicheres Land gilt zum Beispiel Albanien, weswegen Ray und Xhino beinahe wieder dorthin abgeschoben worden wären. Kürzlich wurden Moldau und Georgien zu sicheren Herkunftsstaaten erklärt. Dabei gab es beim diesjährigen Christopher Street Day in Tiflis zahlreiche Verletzte durch mutmaßlich staatlich geduldete Schlägertrupps. Die FDP hat den Vorschlag eingebracht, Algerien, Tunesien und Marokko in diese Liste aufzunehmen, obwohl auch dort Homosexuelle verfolgt werden. In solchen Fällen kann der subsidiäre Schutz greifen: Wer aus einem sicheren Herkunftsland kommt, aber „stichhaltige Gründe für die Annahme vorbringt, dass ihm bei einer Rückkehr in sein Herkunftsland ein ,ernsthafter Schaden‘ droht, hat Anspruch auf subsidiären Schutz“. Eine Sonderregelung, die eintritt, wenn weder Flüchtlingsschutz noch Asyl gewährt werden kann.
Haben die homosexuellen Geflüchteten Deutschland erreicht, sind die Bundesländer für sie zuständig. Diese prüfen, ob der angegebene Fluchtgrund tatsächlich vorliegt. Die Behörden durchsuchen das Gepäck nach Fotos und sie beschlagnahmen Handys, um „eindeutige“ Bilder als Beweise zu sichern. Im Internet werden die Profile daraufhin überprüft, ob sie den Fluchtgrund stützen. Gleiches gilt für die Historie in Suchmaschinen. Einige Bundesländer wie Hessen oder Berlin haben für Menschen, die aufgrund ihrer Sexualität verfolgt werden, eigene, geschützte Unterkünfte. Wer bei der ersten Untersuchung seinen Fluchtgrund glaubhaft machen konnte, wird nach dem Aufenthalt in der Erstaufnahmeeinrichtung dort untergebracht. Hessen verfügt über drei solche Safe Places: Frankfurt, Wiesbaden und Darmstadt.
Die Flüchtlingsunterkunft Krausestraße Hamburg Foto: Imago / Funke Foto Services
Container wie in hier Hattingen haben sich für Unterkünfte bewährt. Foto: Imago / Funke Foto Services
Die Flüchtlingsunterkunft Krausestraße Hamburg Foto: Imago / Funke Foto Services
Container wie in hier Hattingen haben sich für Unterkünfte bewährt. Foto: Imago / Funke Foto Services
Die Stadt Wiesbaden nutzt dafür eine ehemalige Kaserne der US-Streitkräfte in einem Vorort der Landeshauptstadt. Dort steht für die homosexuellen Geflüchteten eine abgetrennte Einheit mit zwölf Betten in mehreren Zimmern zur Verfügung. In den meisten Räumen werden vier Personen in Stockbetten untergebracht, in einigen wenigen Zimmer sind es nur zwei. Eine Gemeinschaftsküche, ein Bad und zwei Toiletten gehören zur Unterkunft. Während die Bleibe für manche eine relativ kurze Übergangsstation in ein besseres, eigenbestimmtes Leben ist, wohnen andere seit Jahren dort. Der Alltag hier ist nicht konfliktfrei. Denn auf engstem Raum treffen die unterschiedlichsten Mentalitäten, Religionen, Alters- und Geschlechtergruppen aufeinander. „Man muss berücksichtigen, dass dort alle bereits eine Flucht und traumatische Erlebnisse in ihren Heimatländern hinter sich haben“, sagt eine frühere Mitarbeiterin, die bei der Wiesbadener Aids-Hilfe für die Betreuung der Geflüchteten zuständig war.
Sprachbarrieren und die Unsicherheit über die Zukunft in einem fremden Land sorgen dafür, dass die Stimmung in der Wohnung oft angespannt ist. Und die „normalen Geflüchteten“ bringen genau das Verhalten, das die queeren Menschen aus ihrer ursprünglichen Heimat vertrieben hat, mit in die neue Unterkunft. Sie veranstalten bei den Homosexuellen im selben Gebäude „regelmäßig Zoff“, sagt die ehemalige Mitarbeiterin. „Die wissen natürlich, was das für eine Wohnung ist.“
Die besondere Situation der Rainbow Refugees genannten Geflüchteten hat spezielle Formen der informellen Hilfe hervorgebracht. Das bundesweite Projekt „Fluchtgrund Queer – Queer Refugees Deutschland“ stellt den Schutzsuchenden hauptamtliche sowie hunderte ehrenamtliche Helfer zur Verfügung. Sie unterstützen bei der Unterbringung, bei Gängen zu Behörden und Ärzten und sie organisieren Übersetzer. Sie führen Spendenaktionen durch, vor allem aber bieten sie den Betroffenen individuelle Hilfe an. Damit aus dem Gefühl der Sicherheit heraus irgendwann auch das Gefühl erwächst, ein neues Zuhause gefunden zu haben.
Tani
Tani
Tani rutscht auf der beigen Leder-Chaiselongue hin und her und strahlt. „Das ist mein Lieblingsplatz“, sagt der Nigerianer. Das recht exklusive Sitzmöbel steht in einer Maisonettewohnung im Frankfurter Stadtteil Rödelheim und gehört, wie auch die Wohnung, Tom und Chris. Das Paar hat Tani 2021 aufgenommen, nachdem er in Wiesbaden versucht hatte, sich das Leben zu nehmen. Er wollte lieber verbluten als zurück nach Italien, ins Flüchtlingslager mit syrischen und afghanischen Männern, die den schwulen Schwarzen immer wieder verprügelten.
Laut dem Dublin-III-Abkommen ist Italien für die Flüchtlinge zuständig, die dort zum ersten Mal den Fuß auf EU-Boden setzen. Das tat Tani zusammen mit etwa 120 anderen Geflüchteten, als ihr Schlauchboot an der italienischen Küste anlandete. Tani, der eigentlich Tanimola heißt, stammt aus einem 200-Seelen-Dorf im westafrikanischen Nigeria. Als er zehn Jahre alt ist, verunglücken sein Vater und seine Mutter mit dem Auto tödlich. Als ältester Sohn hätte Tani in der Familie den Platz seines Vaters übernehmen sollen. Doch die Zweitfrau setzt den Jungen vor die Tür. Tani lebt fortan auf der Straße und hält sich mit Haareschneiden über Wasser. Der Großbauer, für den Tanis Vater arbeitete, findet den Jungen schließlich und nimmt ihn mit in sein komfortables Haus in einer Gated Community. Dort wächst Tani zum jungen Mann heran. Er fühlt sich geliebt und beschützt. „Der Großbauer hat sich dann in mich verliebt und ich hatte auch Gefühle für ihn“, sagt Tani. Das gute Leben endet mit dem Tag, als ein Wächter der Gated Community im gemeinsamen Schlafzimmer steht. „Wir waren auf einer Feier und hatten vergessen, die Tür zu verriegeln.“ Die Entdeckung ihrer Beziehung zwingt die beiden Männer zur sofortigen Flucht. Homosexualität ist in Nigeria seit 1901 verboten. Das Gesetz, das noch die britische Besatzungsmacht verabschiedet hatte, ist in der Gesellschaft so verankert, dass immer wieder schwule Männer auf der Straße zu Tode geprügelt werden.
Chris, Tani, und Tom (v.l.): Zu einer Familie zusammengewachsen.
„Wir sind in Unterhosen zum Auto meines Freundes gerannt und nach Norden gefahren“, erzählt Tani. Von der Grenze aus wollen sie auf der Ladefläche eines Lkw weiter bis ans Mittelmeer. „Ich bin auf den Lkw aufgesprungen, als er anfuhr“, berichtet Tani. „Mein Freund ist aber abgerutscht. Ich habe Blut gesehen und etwas Weißes, das aus seinem Kopf kam.“ Tränen stehen ihm im Gesicht. „Ich konnte nichts machen. Der Lkw fuhr ja einfach weiter und als er irgendwann hielt und ich mit dem Fahrer sprechen konnte, waren wir zu weit, um umzudrehen.“
Tani gelangt allein auf der Ladefläche bis nach Algerien. Dort arbeitet er in einer Autowaschstraße, bis er genug Geld zusammen hat, um einen der zahlreichen Schleuser bezahlen zu können. Er schafft es schließlich über das Mittelmeer. Tani steigt in einen Zug nach Deutschland, auch um den Schlägen der anderen im italienischen Flüchtlingslager zu entgehen. Ein Ticket hat er nicht. Er lacht: „Ich bin schwarzgefahren!“
Eigentlich will er nach Köln, denn im Internet hat er gelesen, dass dort viele Schwule leben. Doch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge schickt ihn nach Wiesbaden, die Landeshauptstadt Hessens. Das Land tut viel, um homosexuelle Geflüchtete zu schützen. Es gibt drei anonyme „Safe Places“ für Menschen, die wegen ihrer Sexualität im Heimatland verfolgt werden. Doch weil Hessen für Tani aufgrund des Dublin-Abkommens nicht zuständig ist, will ihn die Polizei mitnehmen und wieder nach Italien zurückschicken. Tani rammt sich ein Messer in den Bauch.
Der verletzte Mann kommt zunächst in eine Wiesbadener Klinik und dann in die Psychiatrie. Die Angst vor der Polizei bleibt. Sie ist so groß, dass Tani nicht mehr schlafen kann. Darum wandert er jede Nacht durch die Stadt. Morgens kehrt er zurück in die Unterkunft, wäscht sich und legt sich aufs Bett. Eine sichere Bleibe ist das nicht.
Helfer in Wiesbaden vermitteln den damals 32-Jährigen dann an ihre Freunde Tom und Chris in Frankfurt. Dort, so ihre Hoffnung, würde ihn die Polizei nicht vermuten. Ein freies Zimmer, das normalerweise an Messegäste vermietet wird, wird Tanis erstes Zuhause in Europa – für mindestens 18 Monate. Denn laut dem Dublin-III-Abkommen fällt ein Geflüchteter, der belegen kann, dass er eine bestimmte Zeit in einem Drittland verbracht hat, in die Zuständigkeit dieses Drittlands.
Anderthalb Jahre verbringt Tani in Frankfurt und wächst mit Tom und Chris zu einer kleinen Familie zusammen. Sie zahlen ihm Deutschkurse an der Frankfurter Goethe-Uni, sodass er schließlich den Hauptschulabschluss nachmacht. Nach den 18 Monaten in Frankfurt kann Tani einen Asylantrag in Deutschland stellen, der relativ schnell bewilligt wird. Kürzlich hat er eine Ausbildung als Altenpfleger begonnen. Bei unserem Gespräch fragt er, zu welcher Altersvorsorge ich ihm raten würde. Tani scheint endgültig in Deutschland angekommen zu sein.
„Das ist mein Lieblingsplatz.“
„Das ist mein Lieblingsplatz.“
Nour
Nour
Es ist die teuerste Reise im Leben von Nour. Rund 15.000 Dollar muss sie bezahlen, um nach Deutschland zu kommen. Die Reise endet am Frankfurter Flughafen, wo der Schleuser die Syrerin absetzt. Im Gespräch mit der 43-Jährigen wird schnell klar: Hier passen die vorgefassten Meinungen über Geflüchtete nicht. Es ist nicht die Rede von Schlauchbooten auf dem Mittelmeer oder Armut und Elend. Nour gehört zur syrischen Oberschicht
Geboren im syrischen Homs, zieht sie mit zwei Jahren zusammen mit der Familie nach Kuweit. „Unser Leben war exzellent, ich hatte eine wunderbare Kindheit.“ Nour schließt die Highschool ab und geht dann nach Syrien, um dort zu studieren. Nach ihren Abschluss beginnt sie mit dem Reisen. Am liebsten war sie im Libanon. „Dort sind die Menschen gegenüber der LGBT-Community sehr aufgeschlossen.“
Dass Nour Frauen anziehend findet, weiß sie bereits sehr früh. „Das war auch meiner Familie irgendwie klar. Aber sie schoben das in ihren Köpfen beiseite, suchten trotzdem einen Ehemann für mich. Seit ich 20 Jahre alt war, kamen Eltern zu uns nach Hause und präsentierten uns ihre Söhne.“ Die Kriterien für die Wahl des künftigen Ehemanns waren dabei sehr einfach: „Er musste reich sein und eine gute Bildung haben“, erklärt Nour, „Es musste zwar auch religiös passen, aber vor allem ging es ums Geld.“
Als Nour 25 Jahre alt ist, zwingen die Eltern sie zur Heirat. Während der vier Jahre, die sie mit ihrem Ehemann zusammen ist, hat sie ein Verhältnis mit einer Frau. „Mein Mann war ein bisschen wie ein kleiner Hund. Er lief mir immer hinterher. Er war sehr, sehr reich und hat mich wirklich geliebt.“ Nour lächelt: „Er wusste, dass ich auf Frauen stehe, aber er hatte kein Problem damit.“
Als Nour ihre Homosexualität vor den Eltern öffentlich macht, weil sie sich scheiden lassen will, ändert sich die Situation. Ihre Eltern blocken Nours Konto und nehmen ihre Papiere an sich. Sie versuchen, sie zuhause einzusperren. „Jeden Tag Geschrei und Schläge. Sie überprüften mein Handy. Ich durfte weder Frauen noch Männer treffen. Sie wurden wie Monster zu mir. Meine ganze Familie waren plötzlich andere Menschen.“ Auch die Freundin trennt sich von ihr.
Es gelingt Nour, nach Dubai zu entkommen. Das Geld dafür hat sie vorher gespart und versteckt. „Zunächst habe ich in einer WG gelebt. Wir waren 15 Mädchen in einer Wohnung, zu fünft oder zu sechst in einem Zimmer.“ Der Schlafplatz kostet rund 200 Euro. „15 mal 200 Euro Miete waren natürlich für den Vermieter ein gutes Geschäft.“
Als Nour 25 Jahre alt ist, zwingen die Eltern sie zur Heirat. Während der vier Jahre, die sie mit ihrem Ehemann zusammen ist, hat sie ein Verhältnis mit einer Frau. „Mein Mann war ein bisschen wie ein kleiner Hund. Er lief mir immer hinterher. Er war sehr, sehr reich und hat mich wirklich geliebt.“ Nour lächelt: „Er wusste, dass ich auf Frauen stehe, aber er hatte kein Problem damit.“
Als Nour ihre Homosexualität vor den Eltern öffentlich macht, weil sie sich scheiden lassen will, ändert sich die Situation. Ihre Eltern blocken Nours Konto und nehmen ihre Papiere an sich. Sie versuchen, sie zuhause einzusperren. „Jeden Tag Geschrei und Schläge. Sie überprüften mein Handy. Ich durfte weder Frauen noch Männer treffen. Sie wurden wie Monster zu mir. Meine ganze Familie waren plötzlich andere Menschen.“ Auch die Freundin trennt sich von ihr.
Es gelingt Nour, nach Dubai zu entkommen. Das Geld dafür hat sie vorher gespart und versteckt. „Zunächst habe ich in einer WG gelebt. Wir waren 15 Mädchen in einer Wohnung, zu fünft oder zu sechst in einem Zimmer.“ Der Schlafplatz kostet rund 200 Euro. „15 mal 200 Euro Miete waren natürlich für den Vermieter ein gutes Geschäft.“
„Ich bin in meinem Leben oft genug umgezogen.“
Neun Jahre lang arbeitet sie für Hyundai in Dubai. Irgendwann kann sie sich eine eigene Wohnung leisten. „Das war die beste Zeit meines Lebens. Ich hatte eine schöne Wohnung, ein teures Auto und ich habe beim Einkaufen nie auf den Preis schauen müssen.“ Ihr Visum muss allerdings jedes Jahr erneuert werden und ihr Chef setzt sie dabei unter Druck. Sie soll dem muslimischen Frauenbild entsprechen. „Er war sehr religiös und ich nicht. Er ahnte auch, dass ich lesbisch bin. Deshalb wollte er mich loswerden und verlängerte meinen Vertrag schließlich nicht mehr. Ohne Arbeit müssen Ausländer Dubai nach wenigen Wochen verlassen. Nach Syrien konnte ich nicht zurück. Ich habe dort zu viel Schlimmes erlebt.“ Zudem hat sie inzwischen eine Partnerin gefunden, „und wir wollten heiraten. Also beschlossen wir, nach Deutschland zu gehen.“
Kurz vor dem geplanten Fluchttermin trennt sich die Freundin von ihr. Nour muss nun alleine los. „Meine Familie hat im Syrienkrieg alles verloren. Ihnen wurden die Wohnungen genommen, mein Vater war ohne Arbeit und meine Mutter bekam Krebs. Also habe ich mein ganzes Geld, das ich in Dubai verdient hatte, der Familie gegeben.“ Die letzten 15.000 Dollar behält sie für den Schleuser. „Am Flughafen ging ich sofort zur Polizei.“ Bei der Anhörung am Flughafen erzählt sie, dass sie lesbisch ist. „Dann folgte eine unwürdige Untersuchung aller meiner Körperöffnungen. Ich wollte schreien. Das war so schlimm, ich werde das nie vergessen!“
Trotzdem bereut Nour die Entscheidung nicht. „Deutschland war meine erste Wahl. Ich mag die Deutschen. Sie sind ehrliche, gute Menschen.“ Inzwischen arbeitet sie in der Automobilindustrie. Sie hat auch eine kleine Zweizimmerwohnung in einem Wiesbadener Vorort gefunden. Die Einrichtung ist bescheiden: ein Sofa, ein Sessel und ein Bett, aber viele Bilder aus Deutschland und von ihrer Familie. Und natürlich ihre Hanteln, mit denen sie täglich trainiert. „Ich fühle mich hier in Wiesbaden Zuhause und ich will nicht mehr wegziehen. Ich bin in meinem Leben oft genug umgezogen.“
„Ich mag die Deutschen. Sie sind ehrliche, gute Menschen.“
„Ich mag die Deutschen. Sie sind ehrliche, gute Menschen.“
Tarlan
Tarlan
„Ich habe mich bestimmt schon für über 200 Wohnungen beworben“, sagt Tarlan. „Die letzten habe ich mir gar nicht mehr angeschaut und der Maklerin einfach nur meine Unterlagen in die Hand gedrückt. Ich würde alles nehmen.“ Seit gut drei Jahren wohnt der Aserbaidschaner in einer privaten Flüchtlingsunterkunft in Niedernhausen. Dort lebt er in einem rund neun Quadratmeter großen Zimmer. Küche und Bad teilt er sich mit allen anderen auf der Etage. „Es ist sehr sauber hier. Täglich kommt ein Reinigungsunternehmen. Nur die Toilettentür lässt sich seit Monaten nicht abschließen. Da gibt es immer mal Überraschungsbesuch“, meint Tarlan.
Der 33-Jährige stammt aus Baku und kam vor gut fünf Jahren nach Deutschland. Bis zu seinem achten Lebensjahr lebten seine Eltern mit ihren zwei Kindern in der Wohnung der Oma. „Das war eine Vierzimmerwohnung. Wir bekamen für uns zusammen allerdings nur ein Zimmer, Küche und etwas Flur. Oma hatte drei Zimmer. Ihr gefiel es nicht, dass meine Mutter und mein Vater verheiratet sind. Sonst hätte sie uns vielleicht mehr Platz gegeben.“
In Baku studiert Tarlan Management und Marketing. Kurz nach dem Abschluss als Master erfahren seine Eltern durch die Polizei von der Homosexualität ihres Sohnes. Daraufhin schließen sie ihn zuhause ein – und wollen ihn zur Heirat mit einer Frau zwingen. „Natürlich wurde ich von meinem Vater geschlagen“, sagt er. „Aber das war ich schon seit der Kindheit gewohnt.“
„Bald werde ich Sandalen mit Socken tragen und Schweinshaxe essen.“
Tarlan ist damals mit einem Mann liiert. Das Paar entscheidet sich 2018 dazu, gemeinsam aus dem Land zu fliehen. „Nach Deutschland wollten wir, weil meine Tante in Bayern wohnt. Ich war ganz sicher, dass sie mich unterstützen würde. Sie ist ein liberaler Mensch.“ Tarlans Mutter gibt ihrem Sohn das Geld für die Flucht. „Sie liebt mich, aber sie hatte Angst, dass mein Vater oder mein Onkel mir etwas antun würden.“ Mit dem Zug geht es über Russland und Weißrussland nach Deutschland.
Statt bei der Tante wohnen zu können, schickt sie das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge jedoch ins Taunusstädtchen Bad Schwalbach. „Das war eine Katastrophe, weil wir in einem Raum mit Iranern und Afghanen untergebracht waren“, sagt Tarlan. „Wir bekamen zwar keine Prügel, obwohl sie wussten, dass wir schwul sind. Sie wollten uns allerdings zum Sex mit ihnen zwingen.“ Nach einigen Monaten in der Gemeinschaftsunterkunft verliert Tarlan seinen Partner. „Er hat einen anderen Mann gefunden und lebt jetzt mit ihm zusammen.“
Tarlan landet im nächsten Flüchtlingsheim, in Niedernhausen, rund 30 km entfernt von Wiesbaden. Weil er neben seiner Muttersprache und Deutsch auch Türkisch und Russisch spricht, kann er andere Geflüchtete bei Behördengängen unterstützen. Als Dank dafür erhält er ein Zimmer für sich allein. „Normalerweise sollten drei Leute in dem kleinen Raum wohnen.“ Ein Zuhause ist es dennoch über die Jahre nicht geworden: „Es ist okay hier, aber nicht mehr.“
Schließlich findet Tarlan einen Job bei der Post am Frankfurter Flughafen. Nach gut einem Jahr schlägt ihn sein Vorgesetzter für eine Beförderung vor. „Jetzt bin ich Teamkoordinator – und Master in Marketing und Management“, lacht Tarlan. Wie viele andere Einwanderer aus Ländern, deren Abschlüsse hierzulande nicht anerkannt werden, ist er für den Job in Deutschland überqualifiziert. Beschweren will er sich trotzdem nicht, er verdient ein durchaus ansehnliches Gehalt. Inzwischen hat Tarlan die deutsche Staatsbürgerschaft beantragt. „Dann werde ich auch Sandalen mit Socken tragen und Schweinshaxe essen“, schmunzelt er. Vorher möchte er aber aus dem Flüchtlingsheim ausziehen. Seit über einem Jahr bewirbt er sich deshalb auf Wohnungsanzeigen im Rhein-Main-Gebiet. Ende August haben die vielen Bewerbungen endlich Erfolg. Er bekommt den Zuschlag für eine kleine Zweizimmerwohnung in der Frankfurter City für eine Miete von 850 Euro kalt. Das Erdgeschoss teilen sich eine Dönerbude und ein Sexshop. „Das ist mir echt egal“, sagt er. „Hauptsache eine eigene Wohnung.“
„Ich habe mich bestimmt schon
für über 200 Wohnungen beworben.“
„Ich habe mich bestimmt schon für über 200 Wohnungen beworben.“
Meri
Meri
Meri, die 32-jährige Armenierin, empfängt uns in einer Zweizimmerwohnung in einem Wiesbadener Wohnblock. Die Wände sind vollgehängt mit Regenbogenfahnen, Bildern aus ihrer Heimat und Meris selbstgemachten Werken. Meri integriert aus Ton modellierte weibliche Geschlechtsorgane in ihre Bilder. „Am besten fühle ich mich dort, wo ich malen kann, wo ich ganz alleine bin, wenn ich das will“, lächelt Meri.
Als wir über ihre Flucht reden, verschwindet die Freude. Hektisch zündet sie sich eine Zigarette an. Geboren ist Meri in Armeniens Hauptstadt Eriwan. Sie studiert Zahnmedizin, 2017, auf halber Strecke zum Master-Abschluss, muss sie flüchten. Ein Jahr lang schwärmte sie damals schon für eine Kommilitonin. „Dann habe ich es ihr gestanden, aber das war nicht so klug. Sie hat es an der Uni weitererzählt und meine Kommilitonen sind mir gegenüber sehr aggressiv geworden.“ Meri schaut aus dem Fenster. „Ich bin sehr froh, dass das inzwischen so weit weg ist, dass ich darüber reden kann.“
Meri weiß, dass sie in ihrer Heimat keine Zukunft mehr hat. Um anderswo leben und Geld verdienen zu können, beschließt sie, als Au-pair nach Deutschland zu gehen. „Asyl war für mich eigentlich nur die letzte Option.“ Bei einer Familie in Solingen findet Meri eine Anstellung. Doch es kommt zum Streit, hauptsächlich wegen des Rauchens, sagt Meri. „Ich wusste nicht, dass das in der Familie verboten war. Die Familie fuhr in die Osterferien und sagte mir, dass ich verschwunden sein soll, wenn sie wiederkommen.“
Letztlich bleibt ihr doch nur der Asylantrag – und eine jahrelange Odyssee auf der Suche nach einem Zuhause. „Ich kannte in Deutschland nur einen einzigen Menschen. Der lebte in Glückstadt, dort bin ich dann hingefahren und habe den Asylantrag gestellt.“ Aus dem schleswig-holsteinischen Glückstadt wird Meri von den Behörden weiter nach Trier geschickt – eine Begründung für die Reise durch die halbe Republik habe sie nicht bekommen.
Drei weitere Stationen in Rheinland-Pfalz folgen, bis sie nach einigen Wochen in einer Unterkunft in Mainz landet. Dort bringen sie Meri mit drei anderen Armenierinnen in einem Zimmer unter. Das ist üblich und soll dazu beitragen, dass sich die Geflüchteten über die Traumata der Flucht austauschen können. Doch unter den Landsleuten spricht sich schnell der Grund für Meris Flucht herum. „Man merkt das unter Armeniern einfach, wenn jemand anders ist. Da hat es schon genügt, dass ich rauche. Mädchen rauchen nicht.“ Auf dem Weg zum Speisesaal wird sie bespuckt. „Es hat mir das Gefühl gegeben, als sei ich immer noch in Armenien“, sagt Meri. „Das hat mich psychisch sehr belastet.“
„Ich fühle mich hier schon sehr, sehr wohl.“
„Ich fühle mich hier schon sehr, sehr wohl.“
Immerhin bekommt sie in Mainz einen Ausbildungsplatz als zahmedizinische Fachangestellte, die Ausbildung kann aber wegen der Covid-Pandemie nicht fortgesetzt werden. Im hessischen Wiesbaden findet Meri eine neue Stelle. Der Umzug ins benachbarte Bundesland hat sich gelohnt: Anfang August schließt sie ihre Ausbildung mit der Note „gut” ab. Mit ihrer Aufenthaltserlaubnis in der Hand feiert Meri in der hessischen Landeshauptstadt dann ihr zweites Coming-out. Auf dem Christopher Street Day steht sie als Vertreterin der Rainbow Refugees auf der Bühne und organisiert einen Stammtisch für homosexuelle Geflüchtete in Wiesbaden. Stolz zeigt sie ihre Regenbogenfahne, auf der alle ihre Freundinnen und Freunde unterschrieben haben. „Die nehme ich auf jeden CSD mit“, sagt sie. „Wenn Ihr wollt, könnt Ihr nachher auch darauf unterschreiben.“ In Wiesbaden und Mainz lernte Meri Menschen kennen, die ihre sexuelle Identität weder bedrohlich noch abstoßend empfinden. Schließlich erhält sie eine Wohnung zur Untermiete. Mit einem richtigen Vertrag. Selbst mitgebracht hat sie nur ein kaputtes Bett und einen gemütlichen Sessel, Schrank und Schreibtisch kommen später dazu. „Die sind aber auch kaputt, weil ich die selbst zusammengebastelt habe“, berichtet Meri. Ganz hat sie das Ziel, ein neues Zuhause zu finden, noch nicht erreicht. „Ich bin immer noch unterwegs zu dem Ort, an dem ich einmal wohnen möchte“, sagt Meri. „Aber ich fühle mich hier schon sehr, sehr wohl.“
„Mädchen rauchen nicht.“
„Mädchen rauchen nicht.“
Xhino und Ray
Xhino und Ray
Foto: Amin Khelghat
Vor den Fenstern der Düsseldorfer Altbauwohnung von Xhino und seinem Ehemann Ray tobt sich ein Sommergewitter aus. Die beiden jungen Männer stammen aus Albanien und haben sich dort beim Studium zum Geologie-Ingenieur kennengelernt. „Zunächst waren wir Freunde“, berichtet Xhino. Aus dem gemeinsamen Lernen wird mehr – sie verlieben sich ineinander, posten ihr Glück auf Facebook. Das ist ein Fehler, denn so werden die Kommilitonen auf die homosexuelle Beziehung aufmerksam. „Dann sind wir an der Uni beleidigt und geschlagen worden. Die Polizei hat uns nur ausgelacht, geholfen hat sie uns nicht.“ Als Rays Eltern die Blessuren in seinem Gesicht bemerken und den Grund für die Prügel erfahren, kommt es zum Bruch. Ray muss das Elternhaus verlassen, zieht zu Xhino, der bei seiner Tante lebt. „Sie hat uns unterstützt und uns auch das Geld für die Flucht gegeben“, erinnert sich Xhino.
Ihr Ziel ist Köln, hier wollen sie ihr Studium in Deutschland fortsetzen. Am 17. August 2015 um Mitternacht, nach 40 Stunden Fahrt, hält der Bus schließlich am Hauptbahnhof. „Das Erste, was ich gesehen habe, war der riesige Dom, der Bahnhof und die vielen Busse. Das hat mir Angst gemacht, weil es so viel Trubel und eine so große Kirche in Albanien nicht gibt“, erzählt Ray. „Wir haben uns erst auch nicht getraut, mit Fremden zu reden, weil wir gehört hatten, dass wir wieder zurückgeschickt werden, wenn man uns erwischt.“
Der Taxifahrer fährt sie zum nächsten Asylzentrum in Köln. Von dort geht es zum zuständigen Bundesamt für Migration und Flüchtlinge nach Dortmund und von dort aus am selben Tag noch nach Düsseldorf. Ihre erste Unterkunft in Deutschland ist das Wohnheim im ehemaligen Finanzamt in der Roßstraße. „Da war es ganz okay. Es gab morgens und abends Toastbrot und mittags die Reste vom Vortag aus den Altenheimen“, erzählt Ray.
„Ich habe in der Kleiderkammer des Flüchtlingsheims geholfen“, berichtet er weiter. „Eines Tages gab jemand Kleidung und Schuhe ab. Wir kamen ins Gespräch und er bot an, uns kostenlos die Haare zu schneiden.“ Daniel heißt der Besucher, er ist Friseur und sein Salon Kinky Cutters liegt nur wenige hundert Meter vom Wohnheim entfernt. Aus dem Haarschnitt wird eine Freundschaft. Als Xhino und Ray Übergriffe in der Unterkunft befürchten, bringt er die beiden mit Zustimmung der zuständigen Behörden in seiner Mansarde unter. Zwei Jahre leben sie dort. Das unbeheizte Zimmer unter dem Dach, das sie mit der Weihnachtsdeko für den Friseursalon teilen, ist der erste sichere Platz seit Beginn ihrer Flucht.
„Die Polizei hat uns nicht geholfen.“
„Die Polizei hat uns nicht geholfen.“
Foto: Amin Khelghat
Um die beiden zu integrieren, bietet Daniel ihnen eine Ausbildung in seinem Salon an. „Dass wir die Erlaubnis für diese Ausbildung bekommen haben, war eigentlich ein organisatorischer Fehler der zuständigen Behörde.“ Denn kurze Zeit später wird ihnen mitgeteilt, dass sie abgeschoben werden sollen. Daniel startet mit einigen Freunden eine Spendenaktion, um im Abschiebeverfahren eine Anwältin bezahlen zu können. Die Abschiebung kann schließlich verhindert werden und Xhino bringt seine Ausbildung als Jahrgangsbester zu Ende, Ray als Zweitbester.
Mittlerweile sind beide in Düsseldorf heimisch geworden. Die Ausbildung machte sich vor allen Dingen bei den Sprachkenntnissen äußerst positiv bemerkbar. „Nirgendwo kann man besser eine Sprache lernen als in einem Friseursalon. Man muss ja den ganzen Tag mit den Kund:innen reden“, erklärt Xhino. Auch miteinander sprechen sie nur deutsch. „Aber wenn wir streiten, dann auf Albanisch“, lacht Ray. Mittlerweile sind sie verheiratet.
Deutlich schwieriger gestaltet sich die Suche der beiden nach einer bezahlbaren Wohnung in der Landeshauptstadt. „Wir haben uns in der Mansarde zwar sicher gefühlt, aber es gab keine Küche und auch kein Bad. Nach zwei Jahren war klar, dass es so nicht weitergehen konnte.“ Nach Monaten erfolglosen Suchens wird in Daniels Haus eine Wohnung frei. Er kann die Altbauwohnung mieten und an Xhino und Ray als Untermieter weitergeben. Hier findet das Paar seine erste eigene Bleibe. „Die Möbel wurden uns anfangs alle geschenkt, auch die Küche“, sagt Ray. Nach und nach kommt eigenes dazu. Beide sind inzwischen an der Düsseldorfer Uni eingeschrieben. Xhino studiert Sozialwissenschaften, Ray Biologie. Er will später promovieren. „Wir sind hier zuhause“, sagt Xhino, „aber jetzt müssen wir dringend mit unserem Hund Gassi gehen!“ Das Gewitter hat sich längst verzogen. Der Himmel klart auf.
„Wir sind hier zuhause.“
„Wir sind hier zuhause.“
Foto: Amin Khelghat
Foto: Amin Khelghat